Bedürfnisse und Ziele in Alltag und Arbeit

Was ist der Unterschied zwischen privaten und professionellen Kontexten? Über diese Frage kann man immer mal wieder gut nachdenken und es lohnt sich, das zu tun, vor allem, wenn man Menschen berät, die sich im einen oder anderen bewegen und dabei das eine mit dem anderen verwechseln. Ich kenne beide Verwechslungen, sowohl die, bei denen sich Menschen in ihren eigenen vier Wänden so verhalten, als wären sie auf der Arbeit, als auch solche, in denen Menschen sich auf der Arbeit so verhalten, als wären sie zu Hause. Beides hat Folgen. Selten gute. Heute habe ich es endlich geschafft, kurz und knapp auf den Punkt zu bringen, was ich in der Unterscheidung zwischen beiden für einen der relevantesten Punkte halte. Und um genau so etwas zu teilen, meine Freude über die kleinen Erkenntnisse, bei denen man sich kurz auf die Schulter klopft und so lange mit sich zufrieden ist, bis man merkt, dass viel schlauere Menschen schon viel früher die gleiche Idee hatten, um genau diese Erkenntnisse zu teilen und zu verewigen, dafür habe ich ja meine Rumpelkiste.

Hier also die einfache Unterscheidung zwischen privaten und professionellen Kontexten:

  • In privaten Kontexten richten sich die Ziele nach den Bedürfnissen aus.
  • In professionellen Kontexten ordnen sich die Bedürfnisse den Organisationszielen unter.

Das war’s im Grunde schon. Aber weil’s Spaß macht, erläutere ich noch ein bisschen, was ich meine, wenn ich das schreibe: Wenn ich an einem Samstagmorgen (an dem ich nicht arbeite) kurz aufwache und mich noch etwas schläfrig fühle, dann drehe ich mich einfach nochmal um. Mein Ziel, möglichst lange zu schlafen, basiert auf dem Bedürfnis nach Ruhe und Erholung. Wenn ich Lust auf ein Eis habe, esse ich ein Eis, wenn ich Lust habe, einen langen Spaziergang zu machen, gehe ich spazieren. Meine Freundschaften und sonstigen sozialen Kontakte wähle ich im Privaten danach aus, ob sie meine Bedürfnisse nach Entspannung, Verbundenheit, Aktivität, Unterstützung, Ähnlichkeit, Wissenszuwachs oder was auch immer erfüllen. Wer das nicht tut, wird nicht mein Freund. Mag ja eine nette Person sein, aber eben für jemand anderen, nicht für mich. Was ich will, hängt davon ab, was ich bedarf.

Nun sind wir Menschen komplexe Wesen und das mit den Bedürfnissen und den Zielen ist ganz so einfach auch nicht, weil wir konfligierende Bedürfnisse haben. Auf der einen Seite möchte ich lange schlafen, auf der anderen Seite bin ich um halb zehn mit meiner Freundin zum Frühstück verabredet. Auf der einen Seite möchte ich jetzt Schokolade und Couch, auf der anderen Seite möchte ich körperlich fit sein. Auf der einen Seite will ich eine schöne Beziehung mit meinem Partner, auf der anderen Seite will ich ihn ermorden, weil er die Zahnpastatube falsch gedrückt hat.

In unserem Privatleben müssen wir unsere Bedürfnisse ständig gegeneinander abwägen, sie balancieren und sie miteinander in Einklang (nicht Gleichklang) bringen. Das ist Arbeit, das fordert Kompetenzen. Aber es lohnt sich. Auf die Dauer dient es uns, wenn wir unsere unterschiedlichen Bedürfnisse im Blick haben und ihnen Raum geben. Wir können nicht einfach entschließen, dass wir bestimmte Bedürfnisse nicht mehr haben wollen, wir müssen uns mit ihnen arrangieren. So bitter und frustrierend das an manchen Stellen auch sein mag, so frustriert man auch sein mag, so enttäuscht davon, dass man nicht ein anderer Mensch ist, man bekommt Bedürfnisse einfach nicht weg. Nicht jedem Bedürfnis muss und sollte kopflos nachgegangen werden; darum geht es nicht. Nur darum, dass man die eigenen Lebensziele (und Tagesziele) nicht an den eigenen Bedürfnissen vorbeiplanen und -strukturieren sollte, wenn man nicht an ihnen zugrunde gehen will.

Im professionellen Kontext gelten andere Regeln. Hier kann ich nicht einfach nach innerer Bedürfnisabwägung beschließen, dass Teams ein Scheißprogramm ist und es deshalb einfach nicht mehr nutzen, mit bestimmten Kollegen einfach nicht zu reden, weil ich sie nicht mag, lieber das Konkurrenzprodukt vertreiben, weil ich es qualitativ hochwertiger finde oder meinen Chef auf die Nase zu einen Vollpfosten schimpfen, weil ich eine wahrheitsliebende Person bin. Ich kann mich nicht einfach entscheiden, an Vorgaben, Arbeitsanweisungen und Prozessen vorbeizuarbeiten, weil sie mir nicht passen. Das heißt, ich kann schon – der Kontext wird in diesem Fall nur irgendwann dafür sorgen, dass ich nicht mehr Teil des Kontexts bin. Als Teil einer Organisation habe ich mich nach den Regeln der Organisation zu verhalten, nicht nach meinen Bedürfnissen. Ich kann natürlich versuchen, auf die Organisation einzuwirken, Regeln und Prozesse zu ändern, aber je nach Position habe ich gar nicht die Machtstellung dazu. Ich kann auch die Organisation verlassen, wenn ich zu wenig meiner Wünsche, Werte, Bedürfnisse und Prinzipien dort ausleben kann oder sogar verraten muss. Ich kenne viele Menschen, die nicht in der Waffenindustrie arbeiten wollen, weil es ihren Werten widerspricht. Es ist hoch empfehlenswert, sich Arbeitskontexte zu suchen, die bezüglich Inhalt und Struktur den eigenen Bedürfnissen entsprechen, gerade weil sich die Bedürfnisse in Arbeitskontexten nach dem Organisationsziel richten.

In Supervisionen erlebe ich diesen Konflikt immer wieder. Mitarbeiter auf kritisches Verhalten anzusprechen, das den Organisationsablauf stört, ist Aufgabe von Führungskräften. Doch gerade Führungskräfte, die in die Position gerutscht sind, weil sie in ihrem eigentlichen fachlichen Bereich gut waren und die nicht in Führungsaufgaben ausgebildet sind, kommen oft in den innerlichen Konflikt, dass das Ansprechen von Verhalten ihrem Bedürfnis nach Harmonie und Augenhöhe widerspricht. Menschen, die Dienstpläne schreiben müssen, um das Organisationsziel einer durchgängigen Betreuung zu sichern, sehen ihr Bedürfnis in Gefahr, von den anderen gemocht zu werden, wenn sie Leute über Weihnachten und Silvester einplanen müssen. Der Mensch, der es gewohnt ist, Anweisungen durch Dominanz und Strenge durchzusetzen und dadurch ganz nebenbei sein Bedürfnis nach Kontrolle befriedigt, muss plötzlich lernen, freundlich und würdigend mit den Mitarbeitern zu agieren, weil sonst keine jungen Leute mehr in dieser Abteilung arbeiten wollen – was dem Unternehmensziel auf keinen Fall zuträglich ist.

Gerade in der Arbeit mit jungen Führungskräften nutze ich diese Unterscheidung zwischen der Rolle und den Bedürfnissen der Organisation und den Bedürfnissen und Werten der Privatperson sehr gerne. Die Unterscheidung bringt Struktur und Ordnung in die eigenen inneren Konflikte und Entscheidungsprozesse, dabei hilft sie zu unterscheiden, was in welchem Kontext wichtig ist.

In den Tiefen, Feinheiten, Grau- und Zwischentönen findet sich vieles mehr und diese Unterscheidung ist in ihrer Einfachheit vor allem ein schöner Einstiegspunkt zu einer Forschungsreise, die in die Komplexität der Verschränkung zwischen psychischem und sozialem System führt.

Und damit genug für heute.

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