Ziel- und Selbstwertroute

Wenn ich mit Patienten arbeite, geht es häufig darum, dass sie sich mehr Freiheit wünschen, für ihre eigenen Bedürfnisse einzustehen und nicht mehr nur nach dem zu leben, wie sie glauben, dass andere es von ihnen erwarten. „Nein sagen“, „Mich selbst vorne anstellen“, „Zu dem stehen, was ich will“, sind so ein paar Formulierungen, die dann kommen können. Oder sie machen sich Stress, permanent die vermuteten Erwartungen aller anderen zu erfüllen und setzen sich damit extrem unter Druck, um ja keine schlechte Rückmeldung zu bekommen oder Unmut auf sich zu ziehen, denn – das wissen alle meine Patienten, die mit diesen Themen hadern – es ist wichtig, dass andere zufrieden mit einem sind und einen gut finden, sonst ist das ja nur der Beweis dafür, dass man ein schlechter Mensch ist und schlechte Menschen sind wertlos.
In liebevoller (und manchmal wiederholter) Kleinarbeit schauen wir uns diese Annahme dann erst mal logisch an. Kann man den Wert eines Menschen anhand der Meinung anderer bestimmen? Nein. Wert ist eine Meinung, Meinungen über etwas oder jemanden können voneinander abweichen und liegen nicht in der Natur der Sache, über die irgendjemand eine Meinung gebildet hat.

Über wen sagt es etwas aus, wenn Paula Margarethe nicht mag? Über wen sagt es etwas aus, wenn Margarethe Vanilleeis nicht mag, Paula aber schon? Wir merken ziemlich schnell, dass Mögen oder Ablehnen keine Eigenschaft des Betrachteten ist, sondern des Betrachters. Dass der eigene Wert an der Meinung von irgendjemandem festgemacht werden soll, ist also wenig sinnvoll – zumal man ja auch selbst eine Meinung von sich selbst hat, die den enormen Vorteil hat, dass man selbst Einfluss auf sie nehmen kann. So und so ähnlich argumentieren ich mit meinen Patienten weiter, bis wir zu dem Punkt kommen, wo wir sagen können: Welchen Wert ich mir selbst zuschreibe, kann ich frei entscheiden. Um meinen Selbstwert zu pflegen, brauche ich keine positiven Rückmeldungen von anderen, ich darf mich wie das letzte Warzenschwein verhalten, alle Menschen können mich entsprechend saudoof finden und ich kann mir sagen: „Was die anderen von mir denken, sagt etwas über sie, über ihre Meinungen, Werte, Wünsche und Bedürfnisse aus, nicht über mich. Wenn sie mich doof finden, liegt es dementsprechend an ihnen und braucht mich nicht zu jucken. Ich finde mich gut.“

Auf logischem Weg kommen wir da hin, das kann man alles sehr schön verargumentieren, wenn man sich rein auf die Frage bezieht, ob der eigene Selbstwert in einem unvermeidlichen Zusammenhang mit der Meinung anderer (oder Leistung oder sonst was, ich habe es jetzt einfach mal an der Meinung anderer durchgespielt, weil es mir heute wieder in dieser Form über den Weg gelaufen ist und in dieser Welt, in der man den Eindruck hat, von Instagram-Idealen selbst dann belästigt zu werden, wenn man nicht mal angemeldet ist, schien mir das gerade einfach am passendsten… wo war ich?… richtig…) Wenn man sich rein auf die Frage bezieht, ob man sich, um einen hohen Selbstwert, also eine hohe Meinung von sich selbst zu haben, von den Bewertungen anderer abhängig machen muss, können wir das kraftvoll und klar mit NEIN! beantworten. Aber wie ist das denn: Wenn ich nicht versuche, mein Verhalten so auszurichten, dass mein Selbstwert schön oben bleibt, indem ich permanent die Erwartungen anderer erfülle, dann mag mich doch keiner mehr, weil ich egoistisch bin und keine Rücksicht mehr auf niemanden nehme!
Das könnte sein. Aber wer sagt denn, dass Sie egoistisch und rücksichtslos sein sollen? Darum geht es nicht und darum ist es nie gegangen.

Mir ist vor einigen Jahren etwas Entscheidendes aufgefallen: Ich mag meine Arbeit, ich mag meine unterschiedlichen Jobs in den unterschiedlichen Bereichen. Um sie weiter machen zu können, brauche ich, dass mich die Menschen, mit denen ich arbeite, mögen. Denn sonst beenden sie die Zusammenarbeit und empfehlen mich schon gar nicht weiter. Sie müssen mich nicht lieben, aber sie müssen die Kooperation schätzen und für sich als gewinnbringend erachten. Ich kann mir in meinem Job nicht erlauben zu sagen: „Es ist mir egal, was Leute von mir denken.“ Wenn alle schlecht von mir denken, ist das eine massive Hürde zu meinem Ziel, meinen Job weiter zu machen.

Ich unterscheide im Gespräch mit meinen Patienten gerne zwischen Ziel- und Selbstwertroute und wir schauen, wie die Verarbeitung und Bewertung verschiedener Szenarien auf die beiden Routen jeweils aussähe:

„Mein Kunde war nicht zufrieden mit der Präsentation.“

  • Selbstwertroute: Oh nein! Ich bin so ein Trottel, immer mache ich alles falsch, das war doch klar, dass ich es wieder vermasseln werde, oh Gott, ich kann gar nichts, ich bin einfach zu dumm! Ich kriege das nie wieder geradegebogen, das ist doch klar, so dumm wie ich bin!
  • Zielroute: Ich möchte, dass der Kunde zufrieden ist, weil ich meinen Job mag und damit auch weiterhin meine Brötchen verdienen möchte. Was kann ich jetzt tun, um die Kundenzufriedenheit wieder zu erhöhen?

„Meine Freundin will Zeit mit mir verbringen und motzt, wenn ich keine Zeit für sie habe.“

  • Selbstwertroute: Sie hat so recht, ich bin eine schlechte Freundin und ein schlechter Mensch obendrein! Ich muss mir unbedingt Zeit für sie nehmen, auch wenn ich eigentlich lieber einen ruhigen Abend zu Hause hätte.
  • Zielroute: Ich möchte Freundschaften in meinem Leben, das spräche dafür, ihrem Wunsch nachzukommen. Andererseits will ich eigentlich keine Freundschaften, in denen herumgemeckert wird, wenn ich mal Zeit für mich brauche. Ich sage ihr heute ab und werde in den nächsten Tagen nochmal mit ihr über die Situation sprechen.

(Natürlich läuft das nicht so musterbeispielhaft wie in den Musterbeispielen, aber die Idee wird hoffentlich deutlich.)

Ich bewege mich in der Psychotherapie gerade sehr gerne in dieser Form, die so simpel und einfach ist, die mein Gegenüber einlädt zwischen Kind- und Erwachsenenmodus hin und her zu schalten und zu erforschen, was passiert, wenn man einen neuen Maßstab an die Rückmeldungen anderer und an das eigenes Verhalten anlegen: Den Maßstab Zieldienlichkeit statt den Maßstab Selbstwert. (Dass man sich dafür auch noch der eigenen Ziele bewusst werden muss, ist dann meistens der nächste Schritt – Psychotherapie macht Spaß.)

Und weil ich ein paar Missverständnisse fürchte: Ich meine nicht, dass man sich nicht auch um den Teil kümmern kann, der als Erstreaktion auf negative Rückmeldung in Selbstärger verfällt, dass man sich den Selbstwerttopf nicht anschauen sollte, dass man keine Gefühle oder Selbstzweifel haben sollte, dass durch diese eine kleine Unterscheidung alles gesagt und erledigt sei oder was auch immer man hier missverstehen könnte. Ich wollte nur erzählen, dass ich es gerade immer wieder schön finde, wenn mein Gegenüber anfängt, für die eigenen Ziele einzustehen, sich für sie einzusetzen und sich entscheidet, dass die Rückmeldung des anderen relevant ist – aber eben als Hinweis darauf, ob die eigene Zielerreichung gerade gefährdet ist – und nicht in Bezug auf die Frage „Bin ich ok?“.

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