Wut ist die Emotion, die hervorgerufen wird, wenn Ziele gefährdet oder Regeln verletzt werden. Es ist schon alleine spaßig, sich das klar zu machen, um zu schauen, wann man selbst wütend wird und welche Ziele in diesen Momenten gefährdet sind oder welche Regeln verletzt werden, von denen man selbst noch nicht mal bewusst wusste, dass man sie hatte. Aber dem intrapersonellen Aspekt von Wut möchte ich mich hier gar nicht zuerst und vordergründig widmen. Ich will viel lieber auf den interpersonellen Aspekt schauen und wieso es für die Arbeit mit Menschen wichtig ist, eine gute Beziehung zur eigenen Wut zu haben.
Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen wütend werden, wenn Ziele gefährdet oder (für sie wichtige internale und auch implizite) Regeln gebrochen werden, hat der Ausdruck von Wut eine sehr wichtige soziale Funktion: Er signalisiert, dass sich hier gerade nicht den Regeln entsprechend verhalten wird. Wenn ich in einem fremden Land bin und herausfinden möchte, welche sozialen Regeln dort herrschen, wäre es eine interessante und vielleicht auch gute Möglichkeit, genau darauf zu achten, wann Menschen kurz grimmig schauen, sich beschweren, offen unzufrieden sind oder gar zornig werden. Das Aufkommen und Abflachen der Wut wäre ein guter Indikator dafür, ob man sich gerade an die tatsächlich relevanten Regeln hält oder nicht. In diesem Experiment würde man sogar darauf hoffen, dass die Landesbewohner ihre Unzufriedenheit schnell und eindeutig ausdrücken, um möglichste frühzeitig und eindeutig feststellen zu können, welches Verhalten den Ärger auslöst, was helfen würde, sich schnell und gut in der fremden Kultur zurechtzufinden. Es wäre mit dieser Methode hingegen schwierig und unintuitiv, sich in einer Kultur zur orientieren, in der der spontane Emotionsausdruck wegsozialisiert wurde, in der das leichte Lächeln nie von den Gesichtern der Leute weicht und in der Unmut niemals geäußert wird. In dieser Kultur würde man nur mit sehr viel Hintergrundwissen, genauem Beobachten und Nachdenken erschließen können, wann man eine soziale Regel bricht. Ohne diese Informationen würde man sich – wenn man einfach dem Gedanken folgt, dass man schon durch eine kleine Wut oder Ärgerreaktion der Gegenseite in die Schranken gewiesen wird, wenn man etwas falsch macht – hoffnungslos daneben benehmen und soziale Regeln brechen, von denen man nicht einmal wüsste, dass es sie gibt. Dabei wäre das ja gar nicht das Ziel! Man möchte sich ja so verhalten, dass es allen damit gut geht, man bekommt lediglich nicht die Reaktionen, die man bräuchte, um zu wissen, was von einem erwartet wird und was nicht.
Ich hatte heute ein Gespräch, in dem es darum ging, dass man, wenn Klienten in Beratungsgesprächen unterbrechen will, eine gute Beziehung zur eigenen Wut braucht. Und dass das so ist, ist völlig logisch, wenn man davon ausgeht, dass Wut entsteht, wenn man eine Regel als gebrochen oder ein Ziel als gefährdet erlebt und der Ausdruck von Wut dazu dient, die soziale Umwelt genau darauf hinzuweisen, dass das passiert, auf dass sie sich wieder daran beteiligt, die Regel einzuhalten beziehungsweise das Steuer wieder Richtung Ziel zu lenken. Wut ist – wie jede Emotion – nicht nur eine Reaktion, die nach innen passiert, sondern die sich nach außen präsentiert: mit zusammengezogenen Augenbrauen, angespannten Schultern, einem fixierenden Blick und Spannung in der Stimme. Und genau das brauchen wir auch, um in Gesprächen in die Führung zu kommen.
Denn was heißt denn “In Führung sein?” – letzten Endes heißt es: Die andere Person folgt meinen Gesprächsregeln. Ich entscheide und gebe an, wann die andere Person spricht und zu welcher Frage sie sich äußert. Ich bestimme, wann eine Antwort fertig ist und ergreife dann wieder das Wort. Ich achte darauf, dass wir im Gespräch das Ziel im Auge behalten und mache darauf aufmerksam, wenn das nicht mehr der Fall ist.
Nun gibt es zwei Arten, Regeln aufzustellen. Ich kann es explizit machen: “Sie reden sehr viel, aber wir haben hier nur 50 Minuten Zeit. Darum möchte ich, dass Sie sich an die Regel halten, immer nur drei Sätze zu sagen, wenn ich eine Frage gestellt habe, dann bin ich wieder dran!” Damit das funktionieren kann, braucht es einen Gesprächspartner, der neben dem Reden auch noch Mitzählen kann, wie viele Sätze er schon gesprochen hat und sich in diesen Sätzen bestenfalls noch auf das beziehen kann, was die Frage verlangt hat. Das bedeutet, es braucht einen hochkompetenten Menschen mit der Fähigkeit, das eigene Handeln aus eine Metaposition mitschneiden zu können und das auch dann noch, wenn er gerade emotional geladen ist. Während ich davon ausgehe, dass viele Menschen grundsätzlich in der Lage sind, diese kognitive Leistung zu erbringen, bleibt es aber eben doch eine kognitive Leistung. Das heißt, die Aufmerksamkeit wird vom eigentlichen Inhalt des Gesprächs ablenkt, was immer schwieriger aufrechtzuerhalten ist, je emotional fordernder das Gespräch wird – ein Effekt, den wir ja in professionellen Gesprächen manchmal durchaus erzielen wollen. Genau diese Fähigkeit zu trainieren kann in einem längeren Therapie- und Beratungsprozess durchaus sinnvoll sein, wenn es beispielsweise das Ziel des Klienten ist, die interpersonellen Fähigkeiten dadurch zu verbessern, die andere Person auch zu Wort kommen zu lassen. Dann sind solche Regeln und das Trainieren der Einhaltung solcher Regeln ein durchaus sinnvoller möglicher Zwischenschritt. In Beratungssituationen, in denen das Viel- oder Vorbeireden des anderen jedoch nicht das Thema, sondern lediglich eine Hinderung daran ist, das Gesprächsziel zu erreichen, halte ich diesen Metaprozess oftmals nicht für nützlich. Mehr noch: Ich halte ihn häufig nicht für möglich. Denn es sagt sich so einfach: Wir stellen eine Regel auf, damit sich die Klientin nicht mehr so verhält, wie sie es tut, sondern wie wir es von ihr wollen! “Frau Schmitt, ab jetzt nur noch drei Sätze am Stück, diese bitteschön bezogen auf meine Fragen und dann bin ich wieder dran!” Das hört Frau Schmitt und dann…? Dann redet Frau Schmitt nach spätestens fünf Minuten wieder so, wie Frau Schmitt eben redet. Viel, schnell, dem Strom der Gedanken folgend und ohne Punkt und Komma. Die Regel hat nicht funktioniert. Eiderdausend! Was für ein Wunder. Frau Schmitt verhält sich wie in unserem kleinen Gedankenexperiment in der fremden Kultur: In der Hausordnung des Hotels stand zwar, dass es verboten ist, die Badeliege frühmorgens bereits mit einem Handtuch zu reservieren, im Bikini zum Mittagsbuffet zu erscheinen und Fremdgetränke an der Bar zu verzehren, aber weder am Pool, beim Mittagsbuffet noch an der Bar wird irgendwie reagiert, wenn sie sich genau so verhält. Was wird Frau Schmitt wohl tun? Frau Schmitt ist es noch von den letzten zwanzig Urlauben gewöhnt, morgens erst einmal ihr Poolliege zu reservieren und schlendert gemütlich zum Pool, legt ihr Handtuch hin und geht frühstücken. Beim Frühstück fällt ihr vielleicht sogar ein, dass es da doch so eine Regel gab, dass man das nicht tun soll, aber als sie später zur handtuchreservierten Liege kommt, lächeln sie die Hotelmitarbeiter freundlich an, während sie sich nun dort ausbreitet. Frau Schmitt schließt daraus, dass es wohl gar nicht so schlimm ist die Regel zu brechen und weil es ja schon auch Vorteile hat, sich so eine Liege zu reservieren, macht sie das am nächsten Tag direkt wieder. Das Gleiche passiert, als sie im Bikini zum Mittagsbuffet geht und abends ihre Flasche Jacky an der Bar ext. Alle sind nett und freundlich, niemand weist sie darauf hin, dass sie sich gerade nicht an die Regel hält. Natürlich verhält sich Frau Schmitt dann so weiter, wie sie es gewohnt ist und wie es für sie am bequemsten ist. Die Nebenwirkungen, die das hat, sind ihr gar nicht bewusst: Nämlich dass Leute sie meiden, weil sie die Liegenreserviererin ist, sie sich eine Erkältung im klimatisierten Speisesaal zuzieht und ihr die großartigen Cocktails an der Bar entgehen. Frau Schmitt hätte einen viel schöneren Urlaub haben können, wenn sie sich an die Regeln gehalten hätte – wusste sie aber nicht und niemand hat ihr den Dienst erwiesen, die Regeln durch unzufriedene Reaktionen bei Regelbruch zu bestärken. Arme Frau Schmitt.
In professionellen Gesprächen geht es uns schnell genau so, wenn wir eine Regel aufstellen. Sie wird gehört und dann erstmal getestet. Dazu ein einfaches Beispiel aus der Supervision; ich sehe die Gruppe zum ersten Mal, es geht um eine Fallbesprechung. Meine erste Frage zum Fall lautet: “Bevor wir in den Fall einsteigen, sagen Sie mir, was ist die Frage, auf die Sie hier im Rahmen der Supervision eine Antwort finden möchten?” Daraufhin fängt die Fallgeberin folgendermaßen an: “Also, der Jugendliche ist jetzt schon seit fünf Jahren bei uns in der Einrichtung und es gab ja schon immer wieder Phasen dieser Art. Vor einem halben Jahr hatten wir es ja auch, dass…”
Was passiert hier? Ich habe eine Frage gestellt, die nicht beantwortet wird, die ich aber aus einem bestimmen Grund, mit einer bestimmten Idee gestellt habe. Ich bin gerade nicht in Führung, denn meiner Frage wird nicht gefolgt. Und wir sind gerade an einem Moment, der Kultur definiert. Denn wenn ich die Fallgeberin einfach weiter reden lasse, gebe ich zu verstehen, dass es schon in Ordnung ist, wenn meine Frage nicht beantwortet, meiner Anweisung nicht gefolgt wird und dass sich die Leute so verhalten dürfen, wie sie wollen, was oft heißt, dass sie sich so verhalten, wie sie es immer tun. Genau wie Frau Schmitt im Urlaub. Nun muss ich in meiner Rolle als Supervisorin aber davon ausgehen, dass ich genau dafür eingekauft bin, dass etwas anderes passiert als das, was normalerweise passieren würde, wenn sich diese Gruppe zu einem Fall berät. Wenn ich als Beraterin arbeite, bin ich dafür da, dass Menschen anders denken, als sie es alleine und ohne mich tun würden. Damit das passieren kann, ist es entscheidend, dass ich in die Führung komme, in die Position, in der ich angeben kann, in welchen Strukturen und nach welchen Prinzipien hier gedacht wird. Nun liegt es also an mir, darauf hinzuweisen, dass gerade meine Regel ‘Fragen, die ich stelle, sind zu beantworten’ eingehalten wird. Wie bei Frau Schmitt im Urlaub genügt es nicht, wenn ich zu Beginn der Zusammenarbeit sage: “Für die Zielerreichung ist es wichtig, dass Sie meine Fragen beantworten und nicht einfach irgendetwas von sich geben, was Ihnen gerade auf der Zunge liegt.” Alle werden nicken, niemand wird es verstehen, garniemand sich daran halten. Es ist mein Job als Supervisorin, Beraterin und im therapeutischen Arbeiten, selbst das soziale Korrektiv zu sein, das deutliche Rückmeldung gibt, wenn sich Leute nicht so verhalten, wie es im Rahmen von Supervision oder Beratung nützlich ist. Ich gehe davon aus, dass Kontexte wie Supervision, Beratung und Therapie für die meisten Menschen wie fremde Kulturen sind, in denen sie sich noch nicht auskennen, sodass es meine Aufgabe ist, ihnen zu helfen, sich so zu verhalten, wie es für ihre Zielerreichung in eben diesem Kontext sinnvoll ist. Gleiches kann man natürlich auch auf alle anderen Führungs- und Leitungssituationen übertragen.
Wie sieht das nun aber konkret aus? Unterschiedlich. Die kleinste Form ist wohl die zusammengezogene Augenbraue und das leichte Kopfschütteln, begleitet von einem Brummgeräusch der Irritation. Besonders feinfühlige Wesen reagieren auf solche kleinen Gesichtsausdrücke der Missgunst bereits mit Verstummen, Rückfragen stellen oder anderen kommunikativen Kurswechseln.
Die nächste Stufe besteht dann vielleicht im aktiven Dazwischenreden: “Moment, das war noch gar nicht meine Frage! Damit ich Ihnen gut zuhören kann, sagen Sie mir doch bitte noch…”
Und als letztes natürlich noch die klare Ansage: “Sie sind hier, weil Sie mit mir daran arbeiten wollen, dass… Ich biete Ihnen hier dies, das, jenes an, was meiner Meinung/Erfahrung/Expertise nach genau dem dient, was Sie erreichen wollen. Statt sich darauf einzulassen, wiederholen Sie jedoch einfach nur die immergleichen Punkte. Ich brauche von Ihnen jetzt eine Ansage: Wollen Sie oder wollen Sie nicht?” “Ja, aber es ist einfach so schwer, weil alle immer…” “Halt. Das war nicht meine Frage, wieso es schwer ist. Wollen oder wollen Sie nicht?” (Hier müssen Sie sich den Beraterpart in einem sehr angespannten-konzentrierten Ton vorstellen.)
Natürlich gibt es noch viele Facetten und Zwischentöne, wie Wut ausgedrückt werden kann. An dieser Stelle kann ich in der Beschreibung leider nur Versagen und entscheidend für das Register, das ich wähle, ist die Gesprächssituation, die bisherige Beziehung, die Reaktionen meines Gegenübers. Daher sollen diese drei Beispiele nur Anhaltspunkte liefern und auf keinen Fall als “So macht man das” verstanden werden. Im Bereich Gesprächsführung gibt es kein “So macht man das” es gibt immer nur “Das gibt es alles zu beachten” und “Das sind die Möglichkeiten”. Darum will ich an dieser Stelle auch noch ganz deutlich sagen:
Genauso wichtig wie die Fähigkeit, mein Gegenüber durch den variablen Ausdruck von Ärger zu begrenzen, ist die Fähigkeit, verstärkende Signale wie Nicken, Lächeln, zum Weitersprechen ermutigen und aktiv Zuhören zu senden, wenn sich ein Klient gerade verhält, wie man es möchte. Wut dient in sozialen Kontexten wie Beratung, Supervision und Training dazu, Verhalten zu begrenzen. Freude, Interesse, Aufmerksamkeit dienen dazu, Verhalten zu validieren und zu verstärken. Ein bisschen wie bei dem Kindergeburtstagsspiel, bei dem etwas versteckt wird und ein Sucher nur durch “Heiß” und “Kalt” auf die richtige Spur gebracht wird, während alle anderen Kinder immer lauter und aufgewühlter “KAALT!” rufen, wenn der Sucher sich weiter vom Ziel entfernt und immer lauter und euphorischer “HEIßßß!”, wenn er sich dem Ziel nährt. Ungefähr so verhält es sich mit ärgerlichen und freundlichen Signalen in professionellen (und persönlichen) Beziehungen. Sie geben dem Gegenüber eine Orientierung, ob man sich gerade auf dem richtigen Pfad befindet oder nicht.
Leider hat Wut in unserer aktuellen Zeit oft keinen guten Ruf und wird nicht als sonderlich professionelle Emotion gewertet. Das wiederum führt dazu, dass viele Menschen beim geringsten Anflug von eigener Unzufriedenheit, Genervtheit oder Groll im professionellen Kontext innerlich zusammenzucken und sich selbst dazu ermahnen, nicht wütend zu werden. Ganz falsch ist das ja auch nicht. Denn sich auf den Boden zu werfen, zu brüllen und um sich zu schlagen, wie ein Kleinkind im Supermarkt wäre auch keine gute Variante – ebensowenig wie der elterliche “Ich bin nicht wütend – ich bin enttäuscht!”-Ausdruck von Wut. In professionellen Situationen geht es weder um das kindliche Durchsetzen der eigenen Bedürfnisse mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, noch um das elterlich-moralisierende Herabschauen auf den anderen. Es geht um zwei Erwachsene, die miteinander aushandeln, wie sie miteinander umgehen. Aus diesem Erwachsenenmodus heraus darf Ärger agieren und kann hochprofessionell sein.
Soviel zum Verständnis. Dann bleibt nur noch die Frage, wie man einen guten Zugang zur eigenen Wut findet und das seltsam-ungewohnte Gefühl aushält, das man hat, wenn man diese Richtung einschlägt und noch wenig bewusste positive – oder überhaupt – Erfahrung damit hat. Aber das soll eine Frage für ein anderes Mal sein.